Montag, 24. November 2008

Das absolut Schöne und der Schrecken


Pasolinis Salò oder Die 120 Tage von Sodom

Pasolinis letzter Film Salò oder Die 120 Tage von Sodom (1975) ergreift den Zuschauer mit einer gewaltigen Wucht, die auch heute noch unerreicht ist, wie der österreichische Regisseur Michael Haneke (Funny Games) freimütig einräumt. Salò ist in der Tat eine „fundamentale Abrechnung mit der europäischen Kultur“ (tip 1/89). Fundamental deshalb, da er sich nicht allein politisch beschränkt, sondern ein vernichtendes Licht auf die gesamtgesellschaftliche Struktur der Industrienationen wirft, in alle Sparten hinein – bis zum Grunde von Ästhetik und Kunst. Ein bitterböses Werk, das erbarmungslos Bilanz zieht.

„Alles, was maßlos ist, ist gut.“ – Unter dieser Devise entschließen sich in den letzten Tagen des untergehenden Mussolini-Regimes ein Herzog, ein Monsignore, ein Richter und Bankier, ihre Ausschweifungen „außerhalb jeder Legalität“ zu exerzieren. Die Anspielung auf die Machtphilosophie Nietzsches ist evident, denn das Motto ließe sich gut und gerne als originärer Aphorismus des Philosophen mit dem Hammer verkaufen; so heißt es ganz ähnlich in Jenseits von Gut und Böse: „Das Maß ist uns fremd, gestehen wir es uns; unser Kitzel ist gerade der Kitzel des Unendlichen, Ungemessenen.“

In aller Abgeschiedenheit halten die vier Herren in einer Villa ihre blutjungen Opfer, um sie ihrer Willkür und Wollust zu unterwerfen, und zwar nach einem gleichermaßen grausamen wie systematischen Reglement. Gemäß dieser Systematik zieht sich die rituelle Handlung durch drei Kapitel: dem „Höllenkreis der Leidenschaft“, dem „der Scheiße“ und dem „des Blutes".

Dem Ganzen ist eine Ouvertüre vorangestellt: „Vor dem Inferno“ – eine überaus deutliche Reminiszenz an Dantes Göttliche Komödie, was auch innerhalb des Œuvres von Pasolini dadurch unterstrichen wird, daß in Mamma Roma (1962) im Zusammenhang mit Dantes Inferno explizit vom „Kreis der Scheiße“ gesprochen wird. Diese formelle Struktur gemahnt nicht von ungefähr an die einer Oper mit Orchestervorspiel und drei Akten.

Der Faschismus ist hier ungeachtet der konkreten Verflechtungen mit den Schergen Mussolinis in einem überpolitischen Sinne zu verstehen, der spezifisch menschlich-seelische Grundstrukturen umgreift. Der Mensch ist prinzipiell des Bösen fähig: homo homini lupus. Aus dieser Perspektive erscheint die Grausamkeit nicht allein im tatsächlich Dargestellten zu liegen, sondern vielmehr im distanzierten Bewußtsein der zugleich beteiligten Zeremonienmeister – dem Geist des Bösen. Wie Puppenspieler, die sich fetischistisch mit ihren Marionetten vermischen – bevor sie sie vernichten.

Dieser Geist des Bösen ist geprägt vom dekadenten Ästhetizismus des l’art pour l’art, als dessen Konsequenz hier der Faschismus in seiner sublimiertesten Gestalt aufgezeigt wird. Die in den Protagonisten zum Ausdruck kommende Gleichsetzung von Ästheten mit Faschisten macht dies offenbar. Pasolini spricht sein scharfes Verdikt über die überstilisierte Kunst des fin de siècle. Daher die permanenten Verweise auf Huysmans, Baudelaire, Stendhal, Nietzsche und sogar auf das Lukas-Evangelium (denn, wie gesagt, es geht um die gesamte abendländische Kultur).

Zynisch auch die Klavierbegleitung, welche die Erzählungen der „Gesellschafterinnen“ untermalt. Selbst die moderne Kunst entrinnt nicht dem Malström der Höllenkreise: Art Deco, kubistische Gemälde, Werke von Léger, Severini, Feininger, Orffs Carmina Burana – alles wird mit hinabgezogen. Der Verbrecher gibt sich kultiviert, ja Kultur erscheint selbst als Verbrechen. So wie der Geist böse ist, so ist das Böse geistig: „Bosheit vergeistigt“, um noch einmal einen Aphorismus Nietzsches ins Spiel zu bringen.

Pasolini wendet sich mit seinem von de Sade ausgehenden, über die Schwarze Romantik und den Symbolismus führenden und sich im Faschismus vollendenden (und also ins Sadistische zurücklaufenden) Höllenkreis radikal gegen jedwede Verabsolutierung des rein Schönen oder gegen den entfesselten Ästhetizismus jenseits aller moralischen Normen. „Das Verbrechen“, bemerkt Karl-Heinz Bohrer in der Ästhetik des Schreckens, „ist ganz zurückgenommen in die Person des Künstler-Täters. … So wird das Verbrechen selbst als ästhetische Handlung verstanden, die nicht unter dem moralischen Aspekt, sondern dem der Geschicklichkeit zu sehen ist“.

Genau dieses Motiv wird nun in Salò im Hinblick auf seine impliziten Konsequenzen in brachialer Weise sondiert: der Umschlag von Ästhetizismus in Faschismus (man könnte auch sagen: die faschistische Latenz des Ästhetizismus). Walter Benjamin hat in bezug auf den Faschismus das Wort von der Ästhetisierung der Politik geprägt. In Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit heißt es: „»Fiat ars – pereat mundus« sagt der Faschismus und erwartet die künstlerische Befriedigung der von der Technik veränderten Sinneswahrnehmung, wie Marinetti bekennt, vom Kriege. Das ist offenbar die Vollendung des l’art pour l’art.“

Kunst wird zur Farce, ja zur Grimasse, wo sie angesichts menschlicher Demütigung, Erniedrigung, Qual, Folter und Ermordung auftritt. (Dies ist der Rahmen, in dem das provokante Wort Adornos, nach Auschwitz sei kein Gedicht mehr möglich, zu begreifen ist.) Die Kultiviertheit der Täter gerinnt zu grausamem Zynismus. Dieser Kontrast zeitigt immer eine verstörende Wirkung: die scheinbar widersprüchliche Identität von Bestialität und Kultur. Wenn sich Kunst jeglicher Verantwortung begibt und im rein Formellen erstarrt, wird das Menschliche selbst zum bloßen Ornament, ja zum Rohstoff, aus dem sie ihre Werke erschafft: Fleisch und Blut. Ihr Licht wird luziferisch, wo sie die Greuel mit dem Mantel des Schönen selbst verbrämt. Salò ist gerade in seiner Radikalität pädagogisch, indem er formell als Kunst darbietet, was inhaltlich nicht mehr als solche konsumierbar ist.

So ist die subtile Filterung des Grauens in der pseudo-sakralen Schlachtung zum Finale des Werks filmästhetisch gleichermaßen raffiniert wie effektiv. Die Opfer werden noch im Moment des Todes durch die groteske Aufmachung der Täter verspottet, die wie eine wirre Mischung aus aztekischem Priester, Inquisitor und Transvestit anmutet.

Pasolini nimmt dieser Szene durch die voyeuristische Logen-Perspektive der durch ein Opernglas perzipierten rituellen Schlachtung den ungebrochenen Effekt. Lautlos zeichnen sich die Schreie auf den Mündern der Opfer ab – wie in den Höllenvisionen Boschs. (Gewiß, oft zitiert – doch immer wieder mit gutem Grund.) Hierdurch gelingt ihm eine Brechung oder Distanzierung, die direkt auf den Rezipienten zielt, indem sie die unmittelbare und bloß konsumierende Wahrnehmung vereitelt und durch die perfide „Optik des Fadenkreuzes“ (Klimke) zu bewußter Reflexion zwingt. Dergestalt wird das Ungeheuerliche gleichsam in die Totale versetzt und die Tragweite des Ganzen vollständig erfaßbar.

Das eigentliche Grauen, das Unerträgliche, rührt nicht so sehr von der Zeremonie des Blutes selbst her, welche die lachenden Sadisten sich bereiten, sondern von der Potenz, die ihre Wurzel ist und die solche Exzesse erst ermöglicht – dem Geist des Bösen: „Ich bin völlig sicher, daß es nicht das Objekt der Ausschweifung ist, das uns reizt, sondern die Idee des Bösen.“ So steht es wörtlich in Den hundertzwanzig Tage von Sodom des Marquis de Sade.

Bei aller Radikalität entrinnt Salò nicht dem performativen Widerspruch, als Kritik ästhetischer Produktion selbst ein ästhetisches Produkt zu sein. Indem er sich aber durch diese Selbst-Kritik oder Reflexion-in-sich selber als Kunstwerk in Frage stellt, eröffnet er dem ästhetischen Bewußtsein sowohl eine neue Ebene künstlerischen Schaffens als auch Rezipierens. Das regressive Moment wird Bestandteil der Kunst selber. Der reine Kunstbegriff wird hierdurch transzendiert. Gerade die Gnadenlosigkeit legitimiert Salò. Hierin hat Pasolini einen großen Film als Vermächtnis hinterlassen. Er ist vielleicht der Archetyp des verstörenden Films schlechthin.

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