Die Wirkung der ästhetisch konzipierten Verstörung, des Schocks und des Grauens, und zwar in einer über die künstlerische Intention hinausgehenden Weise, ist alt. Bei der Uraufführung der Eumeniden im 5. Jahrhundert v. Chr. sollen Frauen beim Anblick der Erinyen in Ohnmacht gefallen sein und sogar Fehlgeburten erlitten haben. Die Tragödie überhaupt ist nach Aristoteles wesentlich auf „Jammer“ und „Furcht“ (eleos und phobos) angelegt, und die in ihr dargestellten Gräßlichkeiten sind vielfältig und extrem.
Die Ilias liest sich über weite Strecken wie ein anatomisches Theater, und Wolfgang Petersens Troja ist auch in diesem Belang weit von einer adäquaten Transposition in Filmische entfernt. Der römische Circus Maximus (panem et circenses) verbindet in perfider Vollendung die Realität des Grauens mit dem distanzierten Genuß eines Schauspiels und der modernen Möglichkeit der Interaktion. In Fellinis Satyricon sieht man, wie zur Belustigung dekadenter Patrizier einem Sklaven die Hand abgehackt wird. Suetons Leben der Cäsaren ist voll von den Grausamkeiten mancher Kaiser wie Tiberius, Nero, Caligula oder Domitian. In den öffentlichen Hexenverbrennungen, Exekutionen und Schauprozessen setzt sich dieses Prinzip fort, im einzelnen bis in die jüngste Zeit.
Das Théâtre Guignol – Eisenstein erwähnt es in seiner Schrift über die Attraktionsmontage – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder die Freak-Shows der Jahrmärkte um 1900, denen Tod Browning ein schönes Denkmal gesetzt hat, sind gleichfalls Zeugnisse der Publikumslust am Grauenvollen. Oder man denke an die Mysterienspiele, die Prozessionen der Flagellanten (Bergmanns Das siebte Siegel) und dergleichen. The Execution of Mary Queen of Scots (1895) steht gleich am Anfang der Filmgeschichte.
Kracauer nennt sie „Greuelfilme“ (Das Grauen im Film, 1940) bzw. „Phänomene, die das Bewußtsein überwältigen“ (Theorie des Films, S. 91 f.). Hier auch der Hinweis, daß Hickethier im Zusammenhang mit der „Dynamik des Bewegungsflusses“, v. a. im Kino des New Hollywood, konstatiert: „Ziel ist oft die sinnliche Überwältigung des Zuschauers“ (S. 67). Ein Faktum, daß bereits im Wesen des Films selbst angelegt ist und durchaus Ablehnung und Unbehagen erzeugen kann: „Ich kann schon nicht mehr denken, was ich denken will“, zitiert Benjamin aus Georges Duhamels Scènes de la vie future von 1930: „Die beweglichen Bilder haben sich an den Platz meiner Gedanken gesetzt.“ (Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 39). Auch unter den allerersten Filmsequenzen waren Todesformen nicht selten vertreten; auch die Versuchung des Heiligen Antonius ist dargestellt worden (Hickethier). Weitere Beispiele, die Ursula Vossen nennt (Horrorfilm, S. 10), sind Dracula und Le manoir du diable von Georges Méliès (1896), Dr. Jekyll and Mr. Hyde von William N. Selig (1908), Frankenstein von J. Searle Dawley (1910) und The Avenging Conscience von David Wark Griffith (1914). In Intolerance (ebf. Griffith, 1916) werden drastische Enthauptungen dargestellt – mit den technischen Tricks seiner Zeit (vgl. im folgenden Ausschnitt die nur dreisekündigen Sequenzen 30:42 bis 30:45 oder 31:20 bis 31:22).
Wobei bemerkt werden muß, daß das Unheimliche nicht generell zum Behufe der Verstörung gestaltet wird, vielmehr zur Gruselunterhaltung. Mit dem Ersten Weltkrieg bekam das künstliche Auge dann in der Wirklichkeit reichhaltiges Material, das Grauenhafte in reproduzierbarer Form zu bannen. Wochenschau und Kriegsberichterstattung. Hier ist der Ort, daran zu erinnern, was Balázs über Kriegsfilme äußert, v. a. über Pour la paix du monde (Geist des Films, S. 81 f.)
Auch ein ganz harmloser Inhalt kann verstörend dargestellt werden. Umgekehrt muß eine filmische Erzählung wie z. B. die Geschichte von Norman Bates nicht a priori einen verstörenden Effekt erzielen, ja es wäre durchaus eine amüsante Version denkbar, und – wer weiß? – vielleicht würde allein eine bloß anders montierte Fassung des Hitchcockschen Meisterwerks nach den Prinzipien Kuleschows (die er selber im Zusammenhang mit Rear Window hervorhebt) diese Wirkung haben. Oder man ersetzt einfach den Soundtrack von Bernard Herrmann, der von sich behauptet hat, er vollende erst einen Hitchcock-Film, durch eine leichte, beschwingte Melodie.
Boris M. Ejchenbaum stellt im Zusammenhang mit der Emanzipation des jungen Films aus der Sphäre des Theaters fest: „Alles schockierte: die mechanische Reproduktion, die mechanische Wiederholung (2 bis 3 Vorführungen pro Abend), die industrielle Fabrikation usw. usw.“ (Probleme der Filmstilistik, S. 103; in: Texte zur Theorie des Films, S. 97 – 137.) Die oben zitierten Worte Duhamels scheinen dies zu bestätigen. Vor allem durch den prinzipiellen Schock-Charakter der Montage, der auch dann nicht außer acht gelassen werden darf, wenn sie – wie bei der découpage classique – unbemerkt bleibt.
Bazin definiert die Montage wie folgt: „Sie [die entsprechenden Verfahren] schaffen einen Sinn, den die Bilder nicht schon objektiv enthalten, der allein aus ihrer Beziehung hervorgeht.“ (André Bazin, Was ist Film?, Kap. VII. Die Entwicklung der Filmsprache, S. 92; Hg. R. Fischer, Berlin 2004; Orig. Paris 1975.) Ferner: „Der Sinn liegt nicht im Bild, sondern die Montage projiziert dessen Schatten ins Bewußtsein des Zuschauers.“ (Ebd., S. 93.)
Die Attraktionsmontage Eisensteins ist nun explizit auf emotionelle Betroffenheit, ja Schock hin konzipiert: „Attraktionen, so wie er sie definierte, enthielten «jedes aggressive Moment … jedes seiner Elemente … das den Zuschauer einer Einwirkung auf die Sinne oder Psyche aussetzt, die experimentell überprüft und mathematisch berechnet ist auf bestimmt emotionelle Erschütterungen des Aufnehmenden» (Schriften I, S. 217).“ So Monaco (Film verstehen, S. 430), und: „ … eine Ansammlung von Rohmaterial – Attraktionen oder «Schocks» –…“ (S. 431). Sergej M. Eisenstein, Schriften, Hrsg. Hans-Joachim Schlegel, München (I 1974, II 1973, III 1975, IV 1984). Und er meint diese Einwirkung ganz konkret als „Verständnis von unmittelbarer Realität“, die solche Effekte zeitigt: „Ausstechen von Augen oder Abhauen von Händen und Füßen“ (Schriften I, S. 217). Freilich nicht nur, doch das Ziel ist die Manipulation des Publikums, wofür prinzipiell jedes Mittel gerechtfertigt ist.
Die Art und Weise des Schnitts ist also ein äußerst geeignetes Instrument, verstörende oder schockierende Effekte zu evozieren. Allgemein durch die Geschoß-Wirkung der Montage, aber auch speziell, z. B. durch den unvermittelten Jump-Cut (Richard Lester, J.-L. Godard) oder den Zwischenschnitt in Un chien andalou (Auge – Rasierklinge / Mond – Wolke; im folgenden Ausschnitt 1:23 bis 1:34).
Das Théâtre Guignol – Eisenstein erwähnt es in seiner Schrift über die Attraktionsmontage – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder die Freak-Shows der Jahrmärkte um 1900, denen Tod Browning ein schönes Denkmal gesetzt hat, sind gleichfalls Zeugnisse der Publikumslust am Grauenvollen. Oder man denke an die Mysterienspiele, die Prozessionen der Flagellanten (Bergmanns Das siebte Siegel) und dergleichen. The Execution of Mary Queen of Scots (1895) steht gleich am Anfang der Filmgeschichte.
Kracauer nennt sie „Greuelfilme“ (Das Grauen im Film, 1940) bzw. „Phänomene, die das Bewußtsein überwältigen“ (Theorie des Films, S. 91 f.). Hier auch der Hinweis, daß Hickethier im Zusammenhang mit der „Dynamik des Bewegungsflusses“, v. a. im Kino des New Hollywood, konstatiert: „Ziel ist oft die sinnliche Überwältigung des Zuschauers“ (S. 67). Ein Faktum, daß bereits im Wesen des Films selbst angelegt ist und durchaus Ablehnung und Unbehagen erzeugen kann: „Ich kann schon nicht mehr denken, was ich denken will“, zitiert Benjamin aus Georges Duhamels Scènes de la vie future von 1930: „Die beweglichen Bilder haben sich an den Platz meiner Gedanken gesetzt.“ (Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 39). Auch unter den allerersten Filmsequenzen waren Todesformen nicht selten vertreten; auch die Versuchung des Heiligen Antonius ist dargestellt worden (Hickethier). Weitere Beispiele, die Ursula Vossen nennt (Horrorfilm, S. 10), sind Dracula und Le manoir du diable von Georges Méliès (1896), Dr. Jekyll and Mr. Hyde von William N. Selig (1908), Frankenstein von J. Searle Dawley (1910) und The Avenging Conscience von David Wark Griffith (1914). In Intolerance (ebf. Griffith, 1916) werden drastische Enthauptungen dargestellt – mit den technischen Tricks seiner Zeit (vgl. im folgenden Ausschnitt die nur dreisekündigen Sequenzen 30:42 bis 30:45 oder 31:20 bis 31:22).
Wobei bemerkt werden muß, daß das Unheimliche nicht generell zum Behufe der Verstörung gestaltet wird, vielmehr zur Gruselunterhaltung. Mit dem Ersten Weltkrieg bekam das künstliche Auge dann in der Wirklichkeit reichhaltiges Material, das Grauenhafte in reproduzierbarer Form zu bannen. Wochenschau und Kriegsberichterstattung. Hier ist der Ort, daran zu erinnern, was Balázs über Kriegsfilme äußert, v. a. über Pour la paix du monde (Geist des Films, S. 81 f.)
Auch ein ganz harmloser Inhalt kann verstörend dargestellt werden. Umgekehrt muß eine filmische Erzählung wie z. B. die Geschichte von Norman Bates nicht a priori einen verstörenden Effekt erzielen, ja es wäre durchaus eine amüsante Version denkbar, und – wer weiß? – vielleicht würde allein eine bloß anders montierte Fassung des Hitchcockschen Meisterwerks nach den Prinzipien Kuleschows (die er selber im Zusammenhang mit Rear Window hervorhebt) diese Wirkung haben. Oder man ersetzt einfach den Soundtrack von Bernard Herrmann, der von sich behauptet hat, er vollende erst einen Hitchcock-Film, durch eine leichte, beschwingte Melodie.
Boris M. Ejchenbaum stellt im Zusammenhang mit der Emanzipation des jungen Films aus der Sphäre des Theaters fest: „Alles schockierte: die mechanische Reproduktion, die mechanische Wiederholung (2 bis 3 Vorführungen pro Abend), die industrielle Fabrikation usw. usw.“ (Probleme der Filmstilistik, S. 103; in: Texte zur Theorie des Films, S. 97 – 137.) Die oben zitierten Worte Duhamels scheinen dies zu bestätigen. Vor allem durch den prinzipiellen Schock-Charakter der Montage, der auch dann nicht außer acht gelassen werden darf, wenn sie – wie bei der découpage classique – unbemerkt bleibt.
Bazin definiert die Montage wie folgt: „Sie [die entsprechenden Verfahren] schaffen einen Sinn, den die Bilder nicht schon objektiv enthalten, der allein aus ihrer Beziehung hervorgeht.“ (André Bazin, Was ist Film?, Kap. VII. Die Entwicklung der Filmsprache, S. 92; Hg. R. Fischer, Berlin 2004; Orig. Paris 1975.) Ferner: „Der Sinn liegt nicht im Bild, sondern die Montage projiziert dessen Schatten ins Bewußtsein des Zuschauers.“ (Ebd., S. 93.)
Die Attraktionsmontage Eisensteins ist nun explizit auf emotionelle Betroffenheit, ja Schock hin konzipiert: „Attraktionen, so wie er sie definierte, enthielten «jedes aggressive Moment … jedes seiner Elemente … das den Zuschauer einer Einwirkung auf die Sinne oder Psyche aussetzt, die experimentell überprüft und mathematisch berechnet ist auf bestimmt emotionelle Erschütterungen des Aufnehmenden» (Schriften I, S. 217).“ So Monaco (Film verstehen, S. 430), und: „ … eine Ansammlung von Rohmaterial – Attraktionen oder «Schocks» –…“ (S. 431). Sergej M. Eisenstein, Schriften, Hrsg. Hans-Joachim Schlegel, München (I 1974, II 1973, III 1975, IV 1984). Und er meint diese Einwirkung ganz konkret als „Verständnis von unmittelbarer Realität“, die solche Effekte zeitigt: „Ausstechen von Augen oder Abhauen von Händen und Füßen“ (Schriften I, S. 217). Freilich nicht nur, doch das Ziel ist die Manipulation des Publikums, wofür prinzipiell jedes Mittel gerechtfertigt ist.
Die Art und Weise des Schnitts ist also ein äußerst geeignetes Instrument, verstörende oder schockierende Effekte zu evozieren. Allgemein durch die Geschoß-Wirkung der Montage, aber auch speziell, z. B. durch den unvermittelten Jump-Cut (Richard Lester, J.-L. Godard) oder den Zwischenschnitt in Un chien andalou (Auge – Rasierklinge / Mond – Wolke; im folgenden Ausschnitt 1:23 bis 1:34).
Dem Ausdruck ›Schnitt‹ wird in diesem Kontext mithin die Weihe seines Vollsinns verliehen.